Riggenbach, Eduard - Die christliche Vollkommenheit nach der Schrift
Der Gedanke an christliche Vollkommenheit hat für manche unter uns vielleicht etwas Bedenkliches, wenn nicht gar Abstoßendes. Erfahrungen, die wir an uns selbst oder an anderen gemacht haben, lassen es uns als undenkbar erscheinen, dass wir in unserem christlichen Leben je zur Vollkommenheit gelangen sollten und wir betrachten einen solchen Zustand nicht ohne Wehmut aber mit aller Bestimmtheit als ein Ziel, das schlechterdings unerreichbar sei. Ja manche sehen es geradezu als eine Schwärmerei an, wenn man es wagt zum Streben nach christlicher Vollkommenheit zu ermuntern. Sie erinnern daran, wie oft schon der Wahn die Vollkommenheit erlangt zu haben zu einem tiefen Falle geführt habe und halten es für besser, den Gedanken an christliche Vollkommenheit von vorneherein abzuweisen.
Im gewöhnlichen Leben ist freilich jeder tüchtige Mensch darauf bedacht, etwas Ganzes, Rechtes und Vollkommenes zu leisten. Es schmerzt ihn, wenn er etwas bloß halb, mangelhaft und unvollkommen getan hat, er nimmt sich vor, ein anderes Mal mehr Mühe und Anstrengung aufzuwenden und gibt die Hoffnung nicht aus, es schließlich noch zu etwas in seiner Art Vollkommenem zu bringen. Nur in unserem Christenleben sollten wir uns von vornherein mit etwas Unvollkommenem zufrieden geben und es als etwas selbstverständliches betrachten, dass wir nichts Ganzes erreichen können? Nur hier, wo wir es mit Gütern zu tun haben, die der höchsten Anstrengung wert sind, sollte unser Streben durch den Gedanken gelähmt sein, unser Ringen könne nie von einem wirklichen Erfolg begleitet sein? In der Tat, es wäre sehr entmutigend, wenn es sich so verhielte, aber unser Herr und Seine Apostel lehren uns etwas anderes. Sie bezeichnen die christliche Vollkommenheit nicht als etwas Unerreichbares. Sie fordern uns im Gegenteil mit allem Nachdruck auf, danach zu streben. Ihr sollt vollkommen sein, wie euer Vater im Himmel vollkommen ist, ruft uns Jesus zu (Matth. 5, 48). Jakobus will, dass die Christen seien vollkommen und ganz und keinen Mangel haben (Jak. 1, 4), und Paulus erklärt, er vermahne und lehre alle Menschen mit aller Weisheit, auf dass er darstelle einen jeglichen Menschen vollkommen in Christo Jesu (Kol. 1, 28 vergl. Kap. 4, 12). Angesichts solcher Worte werden wir es doch nicht wagen, das Streben nach Vollkommenheit als etwas Unevangelisches und Verwerfliches hinzustellen, vielmehr werden wir anerkennen müssen, dass uns hier eine Aufgabe gestellt ist, die wir mit allem Ernst ins Auge fassen und in Angriff nehmen sollen.
Zur Lösung einer Aufgabe ist vor allem erforderlich, dass man sie recht verstehe, so müssen wir auch darüber ins Klare kommen, was christliche Vollkommenheit ist. Die Fassung unseres Gegenstandes leitet uns dabei auf die rechte Quelle der Erkenntnis hin, sie weist uns auf die Heilige Schrift als auf die Lehrmeisterin, die uns unterrichten soll; vielleicht ist es aber doch nicht wertlos, wenn wir uns zunächst danach umsehen, wie man in der Kirche zu verschiedenen Zeiten über die christliche Vollkommenheit gedacht hat. Diese Gedanken liegen ja nicht als etwas Totes und Vergessenes in der Vergangenheit. Sie sind noch heute lebendig und üben ihren Einfluss auf uns aus, manchmal ohne dass wir uns dessen bewusst sind. Wir meinen vielleicht, uns von der Heiligen Schrift leiten zu lassen und sind tatsächlich von ganz anderen Anschauungen beherrscht, oder wir greifen ein Stück biblischer Wahrheit heraus und vernachlässigen darüber andere, die wir auch nicht übersehen dürfen, wenn wir die ganze Wahrheit erkennen wollen. So werden wir für den Reichtum der Schriftgedanken desto empfänglicher sein, wenn wir uns zuerst vergegenwärtigen, in welcher Weise man die christliche Vollkommenheit sich als Ziel vorgehalten und erstrebt hat.
Die römische Kirche verzichtet darauf, alle ihre Glieder zur Vollkommenheit zu führen. Nach ihrer Lehre ist es die Pflicht eines jeden Christen, das Gesetz Gottes zu halten und die Vorschriften der Kirche zu beobachten. Wer dies tut, erfüllt seine Schuldigkeit und gelangt dadurch zum ewigen Leben. Mehr als das darf von niemand gefordert werden. Wenn aber jemand etwas leisten will, was über das hinausgeht, wozu alle Christen verpflichtet sind, so leitet ihn die Kirche zu Werken von besonderem Werte an. Er wird angewiesen, die sogenannten evangelischen Ratschläge zu befolgen, man empfiehlt ihm, sich der Ehe zu enthalten, sich des Besitzes zu entäußern, auf den eigenen Willen zu verzichten und sich in unbedingtem Gehorsam seinen kirchlichen Vorgesetzten zu unterwerfen. In der Übung dieser Leistungen besteht die christliche Vollkommenheit. Der Mönch, der sich von der Welt ins Kloster zurückzieht, ist der vollkommene Christ. Niemand kann gezwungen werden, ein solches Leben zu führen; wer sich aber aus eigenem Willen entschlossen hat, die Ratschläge der Kirche zu befolgen, ist verpflichtet, sein Leben lang dabei zu verharren. Er hat nicht mehr die Freiheit, sein Gelübde zurückzunehmen; der einmal gefasste Entschluss wird zur bindenden Pflicht für immer; dafür erwirbt er sich aber auch ein großes Verdienst. Weil er mehr leistet als ein Christ zu tun verpflichtet ist, so hat er einen Überfluss an guten Werken und hilft dazu mit, jenen Schatz überschüssigen Verdienstes anzusammeln, aus welchem die Kirche allen denen mitteilen kann, die dem Gesetz Gottes und dem Gebot der Kirche nicht genügend nachgekommen sind.
Für unser Urteil ist diese mönchische Frömmigkeit von vornherein gerichtet. Wir wissen zu genau, wie oft die gepriesene Keuschheit und Armut in ihr Gegenteil umgeschlagen hat, und wie oft der Gehorsam gegen die Kirche ein Mittel zur Ausführung der verwerflichsten Pläne geworden ist, aber wir verkennen leicht die Wahrheit, welche in der römischen Anschauung enthalten ist. Wie viel wird dadurch gesündigt, dass man den natürlichen Trieben die Zügel schießen lässt, anstatt sie einer ernsten Zucht zu unterstellen! Wie mancher Christ ist durch den Betrug des Reichtums geblendet worden und hat über dem Streben nach Geld und Gut die Rettung seiner Seele versäumt! Für wie viele ist die schrankenlose Selbständigkeit zu einem Anlass geworden sich über alle Ordnung hinwegzusetzen und rücksichtslos den eigenen Willen durchzuführen! Da wäre es oft sehr heilsam, sich aus eigenem Antriebe eine gewisse Beschränkung aufzuerlegen.
Auch um den Schriftbeweis ist die katholische Kirche nicht verlegen. Hat nicht Jesus von solchen geredet, welche um des Himmelreichs willen freiwillig auf die Ehe verzichten (Matth. 19,12) und mit großem Ernst dazu aufgefordert, sich selbst zu verleugnen (Matth. 16,24)? Ja, hat er dem reichen Jüngling, der sich der Erfüllung aller Gebote Gottes rühmte, nicht ausdrücklich gesagt: „Willst du vollkommen sein, so gehe hin, verkaufe, was du hast, und gibs den Armen, so wirst du einen Schatz im Himmel haben, und komm und folge mir nach“ (Matth. 19,21)?
Fast könnte es scheinen, als ob die römische Kirche mit ihrer Lehre wirklich nur dem Worte des Herrn gefolgt sei und doch ist das, wenn man genauer zusieht, nur ein Schein. Jesus hat dem reichen Jüngling nicht eine Anleitung geben wollen, wie er zu einem höheren Grade der Sittlichkeit gelangen könne, sondern hat ihn auf den wunden Punkt in seinem inneren Leben hingewiesen. Wohl hat er ihm freigestellt, ob er seinem Worte nachkommen wolle oder nicht, aber nicht in dem Sinne, dass das für das Heil seiner Seele keine entscheidende Bedeutung habe. Die Vollkommenheit, deren Erstrebung er dem jungen Schriftgelehrten empfiehlt, ist eine ganze Hingabe, ohne die der Eingang ins Reich Gottes gar nicht möglich ist. Darum redet er auch, als der Jüngling traurig von dannen geht, nicht etwa davon, dass nicht alle Menschen sich zu außergewöhnlichen Leistungen aufzuschwingen vermöchten, sondern er spricht das ernste Wort: „Ein Reicher wird schwerlich ins Himmelreich kommen. Es ist leichter, dass ein Kamel durch ein Nadelöhr gehe, denn dass ein Reicher ins Himmelreich komme“ (Matth. 19,23. 24). Was Jesus dem reichen Jüngling zumutet, gilt seinem Kern nach allen Christen: wir sollen innerlich los sein von Geld und Gut, unseren Besitz nicht betrachten als ein Mittel zur Befriedigung unserer selbstsüchtigen Wünsche, sondern als eine Gabe, uns verliehen zur Verwendung nach Gottes Willen im Dienste der Liebe. Auch heute noch kann der Herr unter Umständen buchstäblich von uns fordern, was er dem reichen Jüngling anbefahl; aber wir tun dann nicht ein überverdienstliches Werk, wenn wir seinem Gebote nachkommen, sondern leisten ihm nur den Gehorsam, den er von uns als seinen Knechten erwarten darf. Nicht das ist dem Herrn wohlgefällig, dass wir unsere Natur unterdrücken, uns wehe tun und uns ohne Not Entsagungen auferlegen; dergleichen selbsterwählte Gottesdienstlichkeit macht uns nicht zu vollkommenen Christen, sondern zu stolzen, eingebildeten Heiligen. Nicht ertöten sollen wir unsere Natur, sondern sie heiligen, nicht die uns verliehenen Gaben wegwerfen, sondern sie zu Gottes Dienst verwenden, nicht unseren Willen abstumpfen und uns zu Knechten der Menschen machen, sondern uns befreien lassen zur Freiheit der Kinder Gottes, denen es eine Lust ist allezeit den Willen ihres Vaters im Himmel zu tun.
Damit kommen wir dem nach, was der Herr von uns verlangt, wenn Er von uns fordert, Gott von ganzem Herzen zu lieben und den Nächsten wie uns selbst (Matth. 22,37-40).
Nur bei einer ganz äußerlichen Auffassung des göttlichen Gesetzes kann man sich einbilden, nicht nur dem Gebote Gottes vollkommen genügen, sondern sogar etwas tun zu können, was über dasselbe hinausgeht. In der Liebe zu Gott und zum Nächsten ist alles eingeschlossen, was wir zu tun vermögen; keine Hingabe und keine Selbstverleugnung, die Gott von uns fordert, greift darüber hinaus und was wir aus eigenem Willen tun, ohne von Gott geheißen zu sein, das ist kein Gott gefälliges Werk, möchte es sich auch in den Augen der Menschen noch so herrlich ausnehmen. Darum können wir durch dergleichen Leistungen niemals eine besondere Vollkommenheit erlangen. Was wir auf diesem Wege erreichen ist bloß ein Zerrbild unserer wirklichen Bestimmung, ein Herabsinken unter die Stufe des Lebens, die Gott uns zugedacht hat, nicht ein Emporsteigen zu engelgleicher Vollkommenheit.
Die Kirche der Reformation hat mit der mönchischen Frömmigkeit gründlich aufgeräumt. Sie erkannte, dass man durch die Verkehrung der Naturordnung Gottes, durch die Unterdrückung der eigenen Persönlichkeit und durch selbst erwählte Werke nicht zur christlichen Vollkommenheit gelangen könne. Sie hat die Betätigung der Frömmigkeit wieder auf ihr wahres Gebiet zurückgewiesen und damit die Grundanschauung des Evangeliums zur Geltung gebracht. Nicht durch weltflüchtige Absonderung, sondern durch Bewährung des Glaubens und der Liebe in den irdischen Verhältnissen gibt sich die wahre Frömmigkeit zu erkennen. Aus dieser Grundanschauung ist auch die reformatorische Auffassung von der christlichen Vollkommenheit hervorgegangen. Rechte Furcht Gottes, rechter Glaube an Gott und Beweisung christlicher Liebe und rechter guter Werke je nach dem Berufe eines jeden, das sind nach der Augsburger Konfession die Stücke, in denen die christliche Vollkommenheit besteht (Aug. XVI R 14 und XXVII R 36-49). Bei dieser Fassung ist die Vollkommenheit nicht mehr an einen Stand gebunden. Furcht Gottes, Glauben und Liebe kann man in allen Ständen beweisen, und der bürgerliche Beruf wie die Schicksale des Lebens geben den reichlichsten Anlass, die christliche Gesinnung zu betätigen und zu bewähren. Damit ist eine Erkenntnis gewonnen, die wir nun und nimmermehr verleugnen dürfen, wenn wir uns dem Geist des Evangeliums nicht entfremden wollen.
Gleichwohl deckt sich die reformatorische Anschauung nicht völlig mit dem neutestamentlichen Begriff der christlichen Vollkommenheit. Sie ist ganz und gar von dem Gegensatz gegen die römische Auffassung beherrscht. Darum achtet sie bloß auf das Wesen der wahren Frömmigkeit und auf das Gebiet ihrer Betätigung; dagegen nimmt sie keine Rücksicht darauf, dass innerhalb des echten und wahren Christenwesens doch verschiedene Grade möglich sind. Sie beschreibt vortrefflich was zum rechten Christen gehört, lässt aber außer Acht, dass das christliche Leben nicht immer in derselben Weise zur Ausprägung kommt, sondern bald unvollkommener, bald vollkommener, und doch ist dieser Gradunterschied notwendig ins Auge zu fassen, wenn das Wesen der christlichen Vollkommenheit erkannt werden soll.
An diesem Punkte hat der Methodismus eingesetzt. John Wesley lehrte: Die christliche Vollkommenheit besteht darin, dass man Gott von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von ganzem Gemüte und aus allen Kräften liebe und seinen Nächsten als sich selbst. Das schließe in sich, dass nichts, was der Liebe entgegen sei, im Herzen bleibe, sondern dass alle Gedanken, Worte und Werke durch die Liebe regiert werden, dass alle Unreinigkeit des Fleisches und Geistes weggenommen werde und somit die innere Sünde aufhöre.
Dabei erklärte er jedoch ausdrücklich, die christliche Vollkommenheit schließe Unwissenheit und Irrtümer in Dingen, die nicht zur Seligkeit gehören, so wenig aus als mancherlei Versuchungen und Schwachheiten, womit der sterbliche Leib die Seele beschwere. Auch gab er namentlich in seinen späteren Jahren zu, dass in Folge des noch vorhandenen Irrtums selbst bei den Vollkommensten Übertretungen vorkämen, die der Tilgung durch das Blut Christi bedürften; doch seien das unwillkürliche Übertretungen und also nicht eigentlich Sünde. Auch seien sie wohl zu unterscheiden von den sogenannten Schwachheitssünden; denn von diesen als von eigentlichen Sünden sei der Vollkommene frei.
Diese Grundsätze wurden, wenn auch nicht eingeschränkt, so doch abgestumpft durch die weitere Anschauung, dass die christliche Vollkommenheit eine göttliche Gabe sei, welche an sich zwar in jedem Augenblick erlangt werden könnte, aber doch meistens erst kurz vor dem Sterben mitgeteilt werde, und dass die Vollkommenheit so gut wie die Wiedergeburt wieder verloren werden könne. So wenig diese Zusätze, namentlich der letztere, zu der Grundanschauung passten, so waren sie doch sehr heilsam. Sie warnten vor Überhebung und jener frechen Sicherheit, welche der Vorbote des Falles ist. Freilich sind gerade diese Gedanken von den Anhängern Wesleys oft ganz unberücksichtigt gelassen worden. Mancherorts, wo die methodistische Vollkommenheitslehre Eingang gefunden hat, ist sie zu der Anschauung von der unbedingten Sündlosigkeit der Geheiligten ausgebildet worden und übt in dieser Gestalt eine nicht geringe Anziehungskraft auf manche Christen aus.
Gewiss enthält sie eine große und wichtige Wahrheit, die nicht genug betont werden kann. Glaube an Gott und Liebe zu Ihm schließen einen unversöhnlichen Gegensatz gegen die Sünde in sich. Da kann und darf es keine Vermittlung geben, sondern nur Kampf auf Tod und Leben. Jedes Zugeständnis an die Sünde ist eine Verleugnung der Gemeinschaft mit Gott. Wir können nicht gleichzeitig der Sünde und Gott dienen, hier gilt es, sich zu entscheiden mit dem vollen Ernst eines entschlossenen Willens. Ja noch mehr, wir dürfen auch durch Christus die Zuversicht zu Gott haben, dass Er uns von der Macht der Sünde erlösen will. Wir dürfen in allen Versuchungen bei ihm Hilfe suchen in der Gewissheit, dass Er uns beistehen und uns den Sieg schenken will. Christus wäre kein vollkommener Erlöser, wenn Er uns nur von der Schuld der Sünde befreite, wir aber nach wie vor Sklaven unserer Begierden und Leidenschaften bleiben müssten. Haben wir kein Vertrauen zu Seiner Willigkeit und Kraft, uns von der Macht der Sünde zu befreien, so ist das Unglaube oder verdeckte Lust am Bösen. Das Neue Testament spricht das aufs nachdrücklichste aus. Wir wissen, wie ernst Jesus vom Abhauen der Hand oder des Fußes redet, die uns zum Ärgernis werden (Matth. 18, 8. 9), und wie Er bezeugt, dass der, welchen der Sohn frei macht, recht frei ist (Joh. 8, 34-36). Paulus schildert den Zustand der Christen als ein „gestorben sein“ mit Christus für die Sünde und ein „auferweckt sein“ mit Ihm zu einem neuen Leben für Gott im Dienst der Gerechtigkeit und Heiligkeit (Röm. 6, 1-14) und Johannes sagt geradezu: „Wer aus Gott geboren ist, der tut nicht Sünde, denn sein Same bleibt bei ihm; und kann nicht sündigen, denn er ist von Gott geboren“ (1. Joh. 3, 9, vergl. Vers 6 und Kap. 5, 18).
Man hat sich vielfach zu Gunsten der methodistischen Auffassung auf derartige Äußerungen der Heiligen Schrift berufen, allein mit Unrecht. Alle diese Sprüche handeln von den Christen überhaupt, nicht von einzelnen besonders begnadigten. Was Christus uns bereitet hat, ist für alle da, die im Glauben Ihn ergreifen, nicht bloß für etliche bevorzugte. Die Lösung von der Sünde und die Versetzung in die Gerechtigkeit ist mit dem Glauben an Christus unzertrennlich verknüpft und ein Christentum, welchem dieses Merkmal fehlt, trägt seinen Namen mit Unrecht. Die Forderung einer besonderen Gnadengabe, welche einen höheren Lebensstand setze als den in der Wiedergeburt durch den gläubigen Anschluss an Christus erlangten, ist eine Verleugnung der evangelischen Wahrheit und ein Rückfall in die römische Auffassung, welche die christliche Vollkommenheit einem kleinen Kreise Auserlesener vorbehält.
Das Neue Testament lehrt aber auch keineswegs, dass die Christen in Wirklichkeit nicht mehr sündigten. Es zeigt uns wohl, dass wir durch den Glauben an Christus ein für alle Mal von der Sünde geschieden sind und nicht mehr die Freiheit haben, in ihr zu leben oder auch nur mit ihr zu spielen. Es bezeugt uns, dass wir durch Christus jederzeit die Macht gewinnen können, die Sünde zu überwinden und ermuntert uns, die Lösung von der Sünde und die Kraft des neuen Lebens, die uns in Christus geschenkt ist, zu er greifen und festzuhalten, aber daneben setzt es durchweg als Erfahrungstatsache voraus, dass wir Christen alle mannigfaltig fehlen (Jak. 3, 2) und stets auf unserer Hut sein müssen (1. Kor. 10, 11; Gal. 6, 1). Gerade Johannes, welcher die in Christus uns geschenkte Erlösung von der Sünde so stark betont, spricht sich darüber ganz unmissverständlich aus: „So wir sagen, wir haben keine Sünde, so verführen wir uns selbst und die Wahrheit ist nicht in uns. So wir sagen, wir haben nicht gesündigt, so machen wir Ihn zum Lügner und Sein Wort ist nicht in uns“ (1. Joh. 1, 8 und 10, vergl. 2, 1). Damit macht uns der Apostel zugleich auf eine mit der Behauptung der Sündlosigkeit stets verbundene Gefahr aufmerksam, der sogar der sittlich ernste und strenge Wesley nicht ganz entgangen ist, der Gefahr der Unwahrhaftigkeit. Je geförderter ein Christ in seinem inneren Leben ist, je mehr er gelernt hat, auch auf die feinen Regungen der Sünde in seinem Herzen zu achten, umso weniger wird er sich auf die Dauer verbergen können, dass er sich noch immer mit Sünde befleckt. Will er trotzdem Sündlosigkeit für sich in Anspruch nehmen, so muss er sich damit helfen, dass er das Böse entschuldigt und gut heißt und so zum Heuchler wird. Dann ist er nicht mehr weit von jenem furchtbaren Augenblick, in welchem die eingebildete Geistlichkeit in die größte Fleischlichkeit umschlagen kann.
Die Behauptung, der Christ könne schon auf Erden zu einem vollkommenen sündlosen Leben gelangen, verkennt die Art unserer Sünde. Das Böse, das wir tun, ist nicht bloß das Ergebnis unserer jeweiligen Entschließung, es ist die Äußerung unseres ganzen Zustandes, unserer gesamten Beschaffenheit. Die Sünde ist bei uns ein Stück unserer Natur. Wie wir sie als Anlage ererbt haben, so ist sie auch durch mannigfaltige Übung zur festen Gewohnheit und Lebensrichtung geworden. Ja, sie steht erfahrungsgemäß in engster Verbindung mit unserem leiblichen Leben, mit seinen Regungen und Trieben. Um der Naturmacht willen, welche die Sünde in unserem Wesen erlangt hat, haftet sie uns jetzt noch immer an, sie kann durch den Glauben an Christus überwältigt und niedergehalten werden, so dass sie unserer Persönlichkeit nicht mehr ihr Gepräge aufdrückt, aber sie bleibt als ein dunkler Untergrund aus dem immer wieder sündliche Antriebe an uns ergehen bis unser Leibesleben im Tode zusammenbricht und die Sünde sich damit ganz ausgewirkt hat. Erst wenn wir mit der Verklärung unserer ganzen Person nach Geist, Seele und Leib dem Bilde des Sohnes Gottes gleich geworden sind, erst dann wird auch die letzte Nachwirkung der Sünde für immer von uns gewichen sein. Auf der anderen Seite ist unsere Verbindung mit Christus nicht naturhafter Art. Wohl wird uns mit Christi Geist eine neue Lebensmacht geschenkt, wir werden neue Kreaturen, aber der Geist hebt unseren eignen Willen nicht auf, sondern heiligt und kräftigt ihn zu selbständiger Betätigung. Es ist unsere Aufgabe, die Verbindung, in die wir durch den Glauben mit Christus getreten sind, beständig festzuhalten und unter allen Versuchungen und Anfechtungen zu behaupten. Unser inneres Leben verläuft nicht mit der Notwendigkeit, mit welcher die Kräfte der Natur ihre Wirkungen ausüben; es bedarf stets von neuem der Entscheidung unseres Willens und unseres freien Entschlusses. Da wird es denn, solange das Böse nicht bloß von außen an uns herantritt, sondern auch noch in unserer eigenen Person eine Macht besitzt, nicht ausbleiben, dass unser Wille sich hin und wieder nach unten ziehen lässt, anstatt sich mit festem Entschluss nach oben zu wenden. So demütigend aber solche Erfahrungen unserer Schwachheit und Sündhaftigkeit sind, so dürfen sie uns doch nicht entmutigen, sondern sollen uns ein Antrieb sein, uns umso fester an den Herrn zu halten, dessen vergebende und heiligende Gnade unsere einzige Hilfe ist.
Worin besteht denn aber nach der Heiligen Schrift die christliche Vollkommenheit? Es wird uns dies am leichtesten verständlich durch die Beobachtung, dass die Vollkommenheit öfters der kindlichen Unreife gegenüber gestellt wird (vergl. 1. Kor. 2, 6 mit 3, 1 ff.; 14, 20; Eph. 4, 13 ff.; Ebr. 5, 13 ff.). Ein Kind ist auch schon ein Mensch, ja es trägt bereits alle Anlagen zu dem in sich, was dereinst aus ihm werden soll, aber alles ist noch unentwickelt, das Gute wie das Böse. Man weiß noch nicht, welche Fähigkeiten zur Entfaltung gelangen werden und welche eine höhere Entwicklung erreichen als die anderen. Es fehlt dem Kinde an der Einsicht in die Dinge, es ist nicht imstande, die Welt um sich her, die Menschen, oder auch nur sich selbst richtig zu beurteilen. Es weiß noch nicht, was heilsam und was schädlich, was möglich und was unmöglich ist. Es entbehrt der Erfahrung, welche die unumgängliche Voraussetzung eines richtigen Verständnisses der Dinge ist: Das Kind kennt keine Grundsätze für sein Tun, es handelt bald so, bald anders, je nachdem es der Augenblick mit sich bringt, es ist in seinem Tun unberechenbar von tausenderlei Einflüssen seiner Umgebung abhängig. Alles ist bei ihm noch im Fluss begriffen, und wenn auch die vorhandene Naturanlage auf eine bestimmte Entwicklung hindrängt, so wird dieselbe doch durch die äußeren Einwirkungen auf das mannigfaltigste gebildet und umgestaltet.
Ganz anders verhält es sich bei dem gereiften Mann. Er steht im vollkommenen Besitz seiner Geisteskräfte, seine Fähigkeiten sind ausgebildet, Beobachtung und Erfahrung haben ihn gelehrt die Welt zu beurteilen und sich in den verschiedenen Verhältnissen zurecht zu finden. Er weiß, was er will, fasst mit Überlegung seine Entschlüsse und führt sie mit kräftigem Willen durch. Er hat sich seine Lebensanschauung erworben und handelt nach bestimmten Prinzipien. Sein Leben hat ein festes einheitliches Gepräge, so dass man weiß, wessen man sich von ihm zu versehen hat.
Ein ähnlicher Unterschied besteht auf dem geistlichen Gebiet zwischen den Unmündigen und den Vollkommenen in Christo. Sie sind beide des Lebens aus Gott teilhaftig, erfüllt mit dem Geiste der Kindschaft, der sie freudig zu Gott als zu ihrem Vater ausschauen lässt. Beide sind durch den Glauben über das sündliche, irdische Wesen hinausgehoben und haben in der Liebe die Kraft eines neuen Lebens empfangen, das unterscheidet sie gleichermaßen von allen übrigen Menschen. Trotzdem sind sie in manchen Beziehungen deutlich voneinander verschieden. Bei dem Unreifen findet sich noch mancherlei Unklarheit, Unsicherheit und Unfestigkeit, bei dem Gereiften Besonnenheit, Ruhe und Kraft. Dort Zugänglichkeit für die widersprechendsten Einflüsse, hier Geschlossenheit und Selbständigkeit. Fassen wir das etwas näher ins Auge.
Ein Kennzeichen christlicher Vollkommenheit ist echte christliche Weisheit. Sie bekundet sich in einem Verständnis für den Heilsratschluss Gottes, wie er in Christus Jesus zu unserer Erlösung offenbar geworden ist. (1. Kor. 2. 6 ff.) Damit ist nicht eine schulmäßige Erkenntnis gemeint, sondern ein Einblick in die Gedanken Gottes, wie er durch eine wachsende Erfahrung der göttlichen Gnade gewonnen wird. Ein solcher Einblick bewährt sich auch in den Verwicklungen des eigenen Lebens. Schwere, niederbeugende Führungen Gottes werden dann nicht zu einem Anstoß des Glaubens, sondern die Erkenntnis der Liebesabsicht Gottes erleuchtet das Dunkel oder verleiht wenigstens die Fähigkeit, das Unverstandene im Glauben als göttliche Fügung hinzunehmen. Die rechte Weisheit bewährt sich ferner in der Erkenntnis des göttlichen Willens in den mannigfaltigen Verhältnissen des Lebens. Sie vermag das göttliche Gebot mit klarem Blick auf den einzelnen Fall anzuwenden und zu erkennen, was unter den besonderen Umständen des gegenwärtigen Augenblicks die gottgewollte Ausgabe ist. Sie ist imstande, die eigene Person recht zu beurteilen, die von Gott empfangene Gabe wahrzunehmen, aber auch die besonderen Schwächen und Gefahren des eigenen Lebens. Sie verleiht einen Scharfblick zur rechten Schätzung von Menschen und Verhältnissen und macht wachsam gegenüber irreführenden und schädigenden Einflüssen von außen her. (1. Kor. 14. 20; Eph. 4, 13 ff; Ebr. 5. 13 ff.) Sie verliert das große Ziel der göttlichen Bestimmung nie aus den Augen und lässt sich nicht durch naheliegende Vorteile blenden, sondern prüft alles nach seinem Wert für die Erreichung des ewigen Lebens. Sie weiß auch in verwickelten Verhältnissen die Wege zu finden, die zum Ziele führen und diejenigen Mittel zu wählen, die jetzt gerade am geeignetsten sind.
Ein weiteres Merkmal christlicher Vollkommenheit ist die Herrschaft über die eigene Person. Wir alle kennen die unwillkürlichen Regungen in unserem Innenleben. Oft treten Bilder vor unser geistiges Auge, die wir nicht gerufen haben; es stellen sich leidenschaftliche Triebe ein, die von unserem Willen ganz unabhängig sind, oder es steigen Gefühle der Lust oder Unlust in uns auf, wir wissen selbst nicht wie. Diese inneren Regungen üben eine gewaltige Wirkung auf uns aus, und zu ihnen gesellen sich die mannigfaltigsten Reize der Außenwelt, welche bald unsere Begierde entzünden, bald uns beschweren und niederdrücken. Unbefestigte Menschen sind von diesen Einwirkungen in hohem Maße abhängig, sie lassen ihre Gedanken dadurch bestimmen, werden von ihnen zu Worten und Handlungen fortgerissen, kurz sie sind in ihrer Meinung und ihrem Tun ein Spielball der Mächte, die von innen und außen auf sie eindringen. Bei dem sittlich gereiften Christen verhält es sich anders. Auch er ist dem Andringen verschiedenartiger Einflüsse ausgesetzt, aber er ist nicht mehr von ihnen abhängig. Er hat es gelernt, seine Gedanken, Worte und Handlungen in Zucht zu nehmen und in den Gehorsam Christi zu stellen (Jak. 3, 2). Was ihn bestimmt und beherrscht ist nicht jenes bunte Getriebe der inneren Regungen und äußern Einflüsse. Sein Leben hat in der Liebe zu Gott einen festen Inhalt gewonnen. (Kol. 3, 14.) Diese Liebe ist der leitende Beweggrund seiner Entschlüsse und Handlungen, nach ihr beurteilt er den Wert und Unwert aller Dinge, sie ist die eigentliche Seele seines Wesens. Je weiter die christliche Reife fortgeschritten ist, umso weniger ist das alles Sache eines besonderen Entschlusses. Die Liebe zu Gott ist die Grundstimmung und Richtung des ganzen Lebens geworden, die alles andere zurückdrängt und sich unwillkürlich in dem gesamten Verhalten kundgibt.
Die christliche Vollkommenheit besteht also in der Reife des christlichen Lebens. Sie ist ein Zustand innerer Festigkeit, wo an die Stelle des unsicheren Tastens und unsteten Schwankens ein klarer Blick und eine sichere Haltung getreten ist. Sie gibt dem ganzen Leben das übereinstimmende Gepräge der Liebe zu Gott und macht zum Abbild des einen ganz vollkommenen Menschen, Jesu Christi. Die Klarheit und Sicherheit, womit er allezeit den Willen des Vaters erkannte und übte und sein Leben ganz in den Dienst der Liebe stellte, spiegelt sich da wieder, wo die Liebe zu Gott die Grundrichtung eines Menschen geworden ist.
Natürlich lässt sich dieser Zustand nicht in allgemeingültiger Weise beschreiben. Es wird bei keinem Christen das innere Leben nach allen Seiten hin gleich entwickelt sein. Zu einem Stand unbedingter Vollkommenheit, welcher das Stückwerk ausschlösse, gelangen wir auf Erden nicht. (1. Kor. 13. 10.) Ebenso wenig ist die uns jetzt erreichbare Vollkommenheit schon Sündlosigkeit oder überhaupt ein Zustand der einen weiteren Fortschritt überflüssig machte. Solange wir auf Erden leben, sind wir in der Zeit des Werdens. Wir können nie auf das Erreichte zurückschauen mit dem Bewusstsein, wir hätten jetzt den höchsten Grad christlicher Reife erlangt. Der Apostel Paulus spricht das sehr deutlich aus in den bekannten Worten: „Nicht dass ich's schon ergriffen habe oder schon vollkommen sei; ich jage ihm aber nach, ob ichs auch ergreifen möchte, nachdem ich von Christo Jesu ergriffen bin“ (Philipper 3, 12). Dies hindert ihn jedoch nicht, sich gleich hernach (Philipper 3, 15) mit den vollkommenen Christen zusammenzufassen. Uns mag dies als ein Widerspruch erscheinen, in Wahrheit ist es keiner. Ein erwachsener Mann ist dem Kinde gegenüber gereift und besitzt auch tatsächlich eine geschlossene Lebens-Anschauung und Haltung; gleichwohl ist er sich dessen bewusst, dass er in gar mancher Beziehung noch der Vervollkommnung seiner Einsicht und seiner Tüchtigkeit bedarf und im Blick auf das, was er zu erreichen wünschte, mag es ihm vorkommen, er sei noch sehr weit vom Ziele entfernt. So ist die christliche Vollkommenheit nach der Heiligen Schrift ein wirklich erreichbarer Zustand und doch nie ein fertiger Besitz, bei dem man sich beruhigen und auf ein weiteres Streben verzichten könnte.
Berührt sie sich darin mit der Reife im natürlichen Leben, so unterscheidet sie sich andererseits doch bestimmt von ihr. Unsere natürlichen Anlagen gelangen großenteils ohne besondere Bemühung unsererseits zur Entfaltung. In mancher Beziehung wachsen wir mit den Jahren von selbst in die Reife hinein, und ebenso nehmen unsere Fähigkeiten, wenn wir ein gewisses Alter überschritten haben, häufig auch von selbst wieder ab. Im geistlichen Leben stellt sich die Reife nicht von selbst ein. Man kann den Jahren nach ein alter Christ sein und doch an Weisheit und sittlicher Kraft noch sehr zurückstehen (vergl. Ebr. 5, 12). Umgekehrt ist für die Erlangung der Reife im Christentum nicht ein bestimmtes Alter erforderlich, wie auch bei normaler Entwicklung mit den zunehmenden Jahren kein Rückgang eintritt. So ist die Vollkommenheit allen Christen zugänglich, die mit Ernst nach ihr streben.
Daran ist freilich alles gelegen, dass wir mit unausgesetztem Eifer vorwärtszukommen begehren. Nur durch demütige Unterordnung unter Gottes Wort und willige Hingabe an Seinen Geist, durch sorgsames Achten auf sich selbst und vor allem durch gewissenhafte Übung im Gehorsam gegen Gottes Willen ist die christliche Vollkommenheit zu erlangen. Je mehr wir uns befleißigen in jedem einzelnen Fall unsere Entschlüsse nach Gottes Willen zu treffen, und je reicher wir an innerer Erfahrung werden, umso klarer wird unser Blick, um so unbestechlicher unser Urteil. Je gewissenhafter wir in den mannigfaltigen Verhältnissen des Lebens Gottes Gebot zur Regel unseres Handelns machen, umso mehr Kraft und Festigkeit gewinnen wir; das alles aber nur, indem wir in beständigem Anschluss an Christus Jesus unseren Herrn uns seinem Leben immer völliger ausschließen.
Mit der Einsicht in das Wesen der christlichen Vollkommenheit ist bereits ihre Notwendigkeit erkannt.
Die Frage, ob ein unvollkommener Christenstand zur Seligkeit nicht genüge, ist gerade so töricht als die andere, wie krank oder verkrüppelt man sein dürfe, um noch leben zu können. Das Streben nach Entwicklung und Reife wohnt allem Lebendigen inne. Es künstlich zurückzudrängen oder es verkümmern zu lassen heißt, das Leben selbst gefährden. Krankhafte Anlagen bilden stets einen Anknüpfungspunkt für andere Übel.
Schwachheiten und Sünden, die wir bei uns dulden, führen zum Untergang unseres geistlichen Lebens, oder wenn es nicht zu diesem Äußersten kommt, so bewirken sie doch ein geistliches Siechtum, das unserem Christenleben alle Freudigkeit raubt.
Fehlt es uns an dem Einblick in den göttlichen Gnadenratschluss, so entbehrt unser Christenleben der Sicherheit und Kraft. Wir wissen nicht, wie Großes uns in Christus geschenkt ist, klagen über unsere Armut, während wir reich sein könnten und gelangen nicht zu einem freudigen Gebrauch der himmlischen Güter. Kommen wir in eine schwierige Lage, so vermögen wir uns nicht zu raten und zu helfen, fahren unruhig hin und her, wissen nicht, was wir tun sollen und verfallen leicht auf Irrwege und Abwege. Wir sind beständig von dem Urteil anderer Menschen abhängig. Bald öffnen wir dieser Stimme unser Ohr, bald jener. Wir vermögen nicht zu unterscheiden zwischen Wahrheit und Irrtum und geraten in die unwürdigste Menschenknechtschaft, anstatt dass wir selbst von Gott gelehrt wären. Ebenso verhängnisvoll ist der Mangel an Herrschaft über uns selbst; lassen wir die leidenschaftlichen Regungen und Triebe in unserem Inneren sich tummeln, so verlieren wir die Aufmerksamkeit auf die leisen Regungen unseres Gewissens. Die Eindrücke, welche das göttliche Wort auf uns gemacht hat, werden sogleich wieder verwischt und manche kostbare Gnadengabe geht unbenutzt verloren. Wir bleiben in einer traurigen Gebundenheit. Anstatt der Welt gegenüber frei und unabhängig dazustehen, werden wir noch immer von ihr beherrscht. Unser Christenleben ist ein beständiges Fallen und Aufstehen, ein fortgesetztes Schwanken ohne Halt und Festigkeit. Das ist nicht der Zustand, zu welchem Gott uns berufen hat, und ein solches Christentum kann auch auf andere Menschen keine Anziehungskraft üben, sondern die Sache des Evangeliums nur verächtlich machen. Darum muss unsere Losung beständig lauten: „Vorwärts!“
Sollen wir nun zum Schluss eine Musterung unter uns halten und danach forschen, welche von uns noch zu den Unreifen, welche dagegen schon zu den Vollkommenen gehören? Das wäre nicht nach dem Sinne der Heiligen Schrift und könnte nur zum Schaden gereichen. Die Apostel haben nie bestimmte Personen als vollkommen bezeichnet und wo die Rede einmal daran streift (Philipper 3, 15) da geht sie sogleich in die Ermahnung zur Betätigung einer entsprechenden Gesinnung über. Nicht der Menschen, sondern Gottes Urteil ist entscheidend. Nicht einmal wir selbst sind imstande, uns richtig zu beurteilen. Es gibt aber Proben, welche es offenbaren, wie weit wir gelangt sind. Das sind die Aufgaben des täglichen Lebens, die Versuchungen zum Unglauben und zur Weltförmigkeit, die Anfechtungen und Leiden. Hier muss sich unsere christliche Vollkommenheit bewähren und zwar nicht bloß ein einziges Mal, sondern fortgesetzt bis an das Ende (Jak. 1, 4). Diese Proben werden uns stets Anlass zur Demütigung und Beugung vor Gott geben und uns zeigen, dass wir noch vieles zu lernen und zu erringen haben, so dass wir mit dem Apostel Paulus sprechen müssen: „Ich vergesse, was dahinten ist, und strecke mich zu dem, das da vorne ist“ (Philipper 3, 13); was wir aber wirklich erreicht haben, das werden wir nicht uns zum Ruhme anrechnen, vielmehr werden wir mit demselben Apostel bekennen: „Durch Gottes Gnade bin ich, das ich bin, und Seine Gnade an mir ist nicht vergeblich gewesen“ (1. Kor. 15. 10).
Die christliche Vollkommenheit nach der Schrift
Vortrag, gehalten in der evangelischen Kirche zu Unterbarmen am 11. August 1898
von Lic. Ed. Riggenbach, Dozent der Theologie in Basel.
Barmen. 1898. Verlag der Wupperthaler Traktat-Gesellschaft. (E. Biermann)