Etter, Johann Ulrich - Maria, die Mutter des Herrn, ein Muster edler Weiblichkeit.

Predigt von Joh. Ulr. Etter, Pfarrer in Bühler.

Text: Du bist gebenedeit unter den Weibern.
Luk. 1. 42.

Es ist wohl nicht nötig, in einem reformirten Gotteshause und vor Zuhörern reformirter Konfession sich gegen den Vorwurf zu rechtfertigen, man huldige, indem man über den vorgelesenen Text zu predigen gedenke, mehr oder minder verdeckt dem Marienkultus. Das sei ferne! Nie noch sind wir in die geringste Versuchung gekommen, auch nur in irgendeiner Weise abzuweichen von dem Gottesworte: „Ich bin der Herr dein Gott; du sollst keine andere Götter neben mir haben“ (2. Mos. 20. 2-3). Nie noch hat uns beschämen müssen des Herrn Jesu Hinweisung auf jene bekannte alttestamentliche Stelle (5. Mos. 6. 13): „Es steht geschrieben: du sollst Gott deinen Herrn anbeten und ihm allein dienen.“ Nie noch ist uns entgangen die ebenso freundliche und herzgewinnende als ernste und entschiedene apostolische Zurechtweisung des gottesfürchtigen und frommen Kornelius, der im Begriffe war, einer Verirrung sich schuldig zu machen, zu welcher die edelsten und besten Herzen in versuchungsvollen Augenblicken hingerissen werden können (Apostelg. 10.26): „Stehe auf, ich bin auch ein Mensch!“ Stets noch haben wir die Frage unseres Katechismus (Kat. Frage 78) auch von der Mutter des Heilandes verstanden wissen wollen: „Soll man auch die Engel und die abgestorbenen Heiligen anrufen? Nein, denn weil die Anrufung allein dem gebührt, der allmächtig und allwissend ist und an den man allein glauben soll, so kann sie zu Niemand als allein zu Gott gerichtet werden.“

Aber auch dem Schlusssatze des Katechismus pflichten wir mit voller Überzeugung bei: „von den heiligen Menschen soll man ehrenvoll denken und reden“, und mit Elisabeth, der frommen Priesterin, bekennen wir, hinblickend auf Maria, die Mutter des Welterlösers: „Du bist gebenedeit unter den Weibern!“

Es böte uns dieser Ausruf der bescheidenen und neidlosen und in ihrer Bescheidenheit und Neidlosigkeit liebenswürdigen Gattin des so würdigen Zacharias den erwünschtesten Anlass dar, unsere christlichen Gefühle und Empfindungen über das unaussprechliche Glück der auserwählten Nazarenerin, Mutter des Welterlösers zu werden, gegenseitig auszutauschen. Benedeien wir sie, aber nicht allein als Mutter des Jesuskindleins, sondern als Inhaberin jener Tugenden, Charakter- und Gemütseigenschaften, um derer willen sie gewürdigt wurde es zu werden.

Maria, die Mutter des Herrn, als Muster edler Weiblichkeit, sei Gegenstand unseres Nachdenkens, unserer Belehrung und, ob Gott will, unserer Erbauung.

Es ist ihre ungeheuchelte Frömmigkeit, ihre anspruchslose Demut, ihre herzgewinnende Sanftmut, ihre zarte Aufmerksamkeit und ihre hingebende, aufopfernde Liebe, die sie zur Gebenedeietsten unter den Weibern, zur Gesegnetsten ihres Geschlechtes, zum ausgeprägtesten Musterbilde edler Weiblichkeit macht.

Es ist dein Werk, o Gott und Herr, was wir hier treiben, denn wir treiben's in deinem Namen und zu deiner Ehre. So bekenne dich denn auch zu uns und zu unserem Gottesdienste, und verleihe uns deinen Geist, den Geist des Verstandes und der Einsicht, des Glaubens und der Liebe, der Kraft und der Heiligung; denn von dir, Vater alles Lichts und alles Lebens, von dir allein kommt jede gute und vollkommene Gabe. Amen.

I.

Die erste Bekanntschaft mit der hochbegnadigten Tochter Israels (Luk. 1. 26), die wir euch, und vor Allem euch Frauen und Töchtern, als Muster edler Weiblichkeit vor Augen stellen, machen wir in der evangelischen Erzählung des Besuches der jungfräulichen Verlobten bei Elisabeth, ihrer Freundin im Gebirge, und zwar auf eine Weise, die uns gleich zu ihrem Vorteile einnehmen muss. Sehen wir hin ins Evangelium. Welches Unschuldbewusstsein! Welch' offener, empfänglicher Sinn für das Göttliche! Welche Gottergebenheit und Demut! Welch' unerschütterlicher Glaube an den, dem kein Ding unmöglich ist! Fassen wir alle Züge zusammen, so tritt das Bild einer ungeheuchelten Frömmigkeit vor unsere Seele.

Herzliche Frömmigkeit, meine Lieben, das ist die Grundeigenschaft menschlicher und insonderheit weiblicher Tugend. Ohne sie ist ihre Tugend nur glänzendes Flittergold, ihre Bildung nur ein übertünchtes Grab, ihr Leben nur ein flüchtiges Spielwerk und ihr ganzes Wesen ein beständiger Widerspruch.

Ein Weib ohne Frömmigkeit ist ein störender Misston in der Schöpfung.

Ein Mann, wenn er nicht religiös ist, nicht im Geiste der Religion denkt, fühlt und lebt, zweifelt an dieser und jener obigen Wahrheit, in Netze des Unglaubens sich verwickelt, aus denen er sich so leicht nicht wieder herauszuarbeiten vermag, kann sofern nicht seine Worte und Werke zu einem entschiedenen Spötter oder Gottlosen ihn stempeln - wohl bedauert, aber nicht verachtet werden. Seine unglückliche, verkehrte Geistesrichtung kann einigermaßen ihre Erklärung in der eigentümlichen Lage haben, in der er sich befindet; in den beschwerlichen Arbeiten und Mühen, welche die Sorge ums tägliche Brot ihm auferlegt; in seiner ununterbrochenen Berührung mit der Welt und dem äußeren Leben; in seinen Freundschaften und Feindschaften, welche gleichsam ein Bleigewicht an seine Füße hängen und ihm den Aufschwung, die Erhebung zum Höheren oft schwer, oft unmöglich machen; in seiner in der männlichen Natur begründeten vorherrschenden Verstandesrichtung, die nicht selten die in ihm auftauchenden edleren Gefühle in der Geburt schon erstickt; vielleicht oft auch darin, dass keine fromme, gläubige Mutter einst seiner Seele eine bessere Richtung gab, oder in späteren Jahren eine eitle, weltgefällige Gattin mit tausend Banden an die vergängliche Lust dieser Welt ihn fesselte. Wir bedauern, wir beklagen ihn, wir wünschen, dass er anders sein möchte, wir flehen zu Gott, dass er ihn erneuere nach seinem inwendigen Menschen, dass er in Jesu Christo eine neue Kreatur werde; aber bei alle dem kann er möglicherweise doch immer noch unserer Achtung, unseres Vertrauens wert sein, bei alle dem kann ich mich möglicherweise auf seine Herzensgüte, seinen Biedersinn, seine unbestechliche Rechtschaffenheit in Handel und Wandel, verlassen. Ein Weib aber, das unfromm, irreligiös, gottentfremdet, der Welt zugekehrt ist, dem die Religion des Gottmenschen nicht die Seele ihrer Seele ist, ist eine widerliche Abweichung der göttlichen Ordnung, ist in die abstoßendste Unnatur verfallen.

Urteilt selbst, meine Lieben, findet ihr nicht eine Gefallene, in einem unbewachten Augenblicke auf einen Irrweg Geratene minder verächtlich als ein unfrommes Weib? Könnt ihr einer solchen eure Teilnahme verweigern, wenn sie einmal angefangen hat, in die Tiefe ihrer Sünde hinabzublicken und über ihre Verirrung Reue zu fühlen? Wandelt euch nicht ein Gefühl innigen Mitleidens und herzlicher Teilnahme an, wenn ihr die büßende Magdalena erblickt, hingesunken zu den Füßen ihres Erlösers, seine Füße benetzend mit ihren Tränen, trocknend mit ihren Haaren, aufblickend und flehend um Gnade und Erbarmen? Ja, müsst ihr die Sünderin in ihrem sie überwältigenden Sündengefühle nicht lieb gewinnen? Könnt ihr euch nicht freuen des Wortes des Herrn: „Ihr sind viele Sünden vergeben, denn sie hat viel geliebt“ (Luk. 7. 47), als hätte er's zu euch gesprochen? Das unfromme Weib aber - und wäre es auch ein mit Glücksgütern reichlich gesegnetes, ein angesehenes, geehrtes, von den Kindern der Welt gehätscheltes Weib, das keinen Gott, keinen Erlöser im Herzen hat, die nicht betet und nicht beten kann, das keiner religiösen Erhebung, keiner Andacht, keiner Gemeinschaft mit dem unsichtbaren Geiste des vom Vater ausgegangenen und in den Schoß des Vaters zurück gekehrten Sohnes Gottes fähig ist, ist es nicht tiefer gesunken? ist ihm nicht schwerer aufzuhelfen? O ein Weib, das ihres Gottes und Heilandes vergessen kann - sollte es nicht auch ihres Kindes, ihres Gatten, ihres besten Freundes, ihrer heiligsten Pflicht vergessen können? Möglich, dass es euch alles Gute verspricht, die unverbrüchlichste Treue, die gewissenhafteste Pflichterfüllung euch gelobt; glaubt ihm aber nicht, es spielt mit Gelübden wie mit dem Tande der Welt; es hält nur so lange Wort, so lange es in seinem Interesse liegt; es verdient keinen Glauben; es hat noch nie bewiesen, dass es wert und würdig sei, ihm Zutrauen zu schenken, mit ganzer Seele sich ihm anzuvertrauen.

Geliebte, o ihr Frauen und Jungfrauen insonderheit! legt doch ungesäumt (wenn es noch nicht geschehen sein sollte) das Fundament zu dem Gebäude eures Lebensglückes, eures Seelenfriedens, eurer Ehre vor Gott und Menschen, eurer Berufstüchtigkeit, eurer Befähigung zur Lösung der großen, heiligen Aufgabe, die euch, ja euch vor allen andern Gliedern des Hauses, im Familienkreise obliegt. Entsagt doch um Gotteswillen nie dem Glauben, den der Geist des Herrn in euch wecken will, auf dass ihr nicht dem Unglücke verfallt, in Unsegen geratet, unerlöst und ohne den Frieden Gottes, der höher ist als alle Vernunft, den die Welt nicht hat und nicht geben kann, auf den öden Steppen und unfruchtbaren Wüsten eines gottentfremdeten Lebens umher irrt, ohne vielleicht je einmal den Weg zum treuen Hirten, den Weg in eine selige Heimat zu finden, in die wir doch Alle einst zu kommen hoffen, dieweil wir hier nur Pilger sind..

Ein nicht vom Geiste der Welt, sondern vom Geiste Gottes belebtes Weib trägt Jesum Christum in ihrem Herzen; sie hat die Mutter des Erlösers zum Vorbilde gewählt, und wird es im Segen erfahren, welch' edles, erhabenes Muster der Frömmigkeit sie nachzuahmen strebt. Der Herr ist auch mit ihr. Auch sie ist eine Gebenedeite unter ihren Mitschwestern.

II.

Sie wird es aber auch durch anspruchslose Demut, die eine natürliche Frucht wahrer Herzensfrömmigkeit ist.

Maria stammte aus königlich Davidschem Geschlechte, verriet aber in ihrer Eingezogenheit keine Spur, dass sie etwas davon wusste oder wissen wollte. Sie war die Auserwählte unter den Töchtern Zions; anstatt aber dieser Bevorzugung sich zu rühmen, ihretwegen sich zu brüsten, rief sie in liebenswürdigster Demut aus: „Mein Geist freut sich Gottes, meines Heilandes, denn er hat die Niedrigkeit seiner Magd angesehen.“

Sie hätte wohl auch stolz werden können auf einen Sohn, der die bewundernswürdigsten Eigenschaften entwickelte, den, hingerissen von seiner Lehre, seinen Taten, seiner anziehenden, zauberisch-fesselnden Persönlichkeit, Tausende suchten, umringten, anflehten, priesen, verherrlichten; blieb aber, nach wie vor, in ihrer stillen Einsamkeit zu Nazareth, und wagte nur dann sich hervor, wenn es die Notwendigkeit erforderte. Belobt, beweihräuchert zu werden, dawider hätte ihr bescheidener Sinn, ihr anspruchsloses Gemüt sich entschieden gesträubt.

Demut, und zwar die ungeheucheltste Demut, war die Seele ihres Wesens, und es muss auch deine Seele sein, lieber Christ, wer du immer seiest, deine Seele vor Allem, Frau, Tochter, soll der Herr auch dich benedeien, willst auch du ein Gesegneter des Herrn, eine Begnadigte des Herrn sein; denn es bleibt ewig wahr, das Gotteswort: „Gott widersteht den Hoffärtigen, den Demütigen aber gibt er Gnade“ (1. Petr. 5. 5).

III.

Mit der anspruchslosesten Demut verband die gebenedeite Mutter des Heilandes auch die herzgewinnendste Sanftmut.

Einem aufmerksamen Leser der Evangelien kann das unmöglich entgangen sein (Luk. 2. 41-52). Erinnern wir jetzt nur an die große Festwoche, an die heilige Pilgerfahrt nach Jerusalem. Als sie sich von dem Feste wieder heim begab, in der Meinung, ihr 12jähriger Jesus werde auch mit bei der Karawane sein, ihn aber bei näherer Nachforschung vermisste, fand sie ihn erst nach Verlauf dreier angstvoller Tage und unsäglicher Mühe und Anstrengung im Tempel, mitten unter den Lehrern sitzend. Eine gewöhnliche Mutter hätte in unverhohlenem Unwillen, in heftigen Wortausbrüchen, in strengen Vorwürfen für gehabte Angst und Mühe etwelche Entschädigung gesucht. Nicht so Maria. Mit der wohltuendsten Milde sagte sie: „Mein Sohn, warum hast du uns das getan? siehe, dein Vater und ich haben dich mit Schmerzen gesucht!“ Und mit einer Seelenruhe, die ihr in einem heftig aufgeregten Gemüte vergeblich suchen würdet, hörte sie schweigend, ohne irgendeine Widerrede, ohne irgendeine Spur von Rechthaberei, seine bedeutungsvolle Erwiderung an: „Was ist es, dass ihr mich gesucht habt? Wisst ihr denn nicht, dass ich sein muss in dem, was meines Vaters ist?“

Da wisst ihr, christliche Zuhörer, ihr namentlich, christliche Frauen und Mütter, was köstlich ist vor Gott: der verborgene Mensch des Herzens, ein sanfter, stiller Geist. Ein solcher Geist besitzt die ausgezeichnet wertvolle Gabe, das in Unordnung Geratene in aller Stille zurecht zu legen, über den Fehlenden ein mildes Urteil zu fällen, den Sünder zu bessern, ohne ihn zu erbittern, das Benehmen des Irrenden, soweit es möglich ist, zum Besten zu deuten, und lieber zu verzeihen als zu verdammen; besitzt die Gabe, im Zwiegespräch mit Familiengliedern und Hausgenossen die Meinung des Andern zu achten, die eigene Ansicht Keinem aufzudringen, zur Geltendmachung derselben den günstigen Moment abzuwarten, mit aller Geduld und Fügsamkeit, wenn's gelungen ist, den günstigen Erfolg sich nicht anmerken zu lassen, nur für sich froh, dass das Gute den Fortgang gefunden, wenn's nicht gelingen will, sich willig ins Unvermeidliche zu fügen und die Hoffnung auf spätere, glücklichere Versuche nicht aufzugeben, freudig auf den vertrauend, der die Herzen der Menschenkinder lenket wie Wasserbäche? Gewiss, solche weibliche Sanftmut gewinnt weit mehr und weit ehrenvollere Siege als jenes rasche, rücksichtslose, unliebsame Durchsetzenwollen dessen, was erzielt werden will; ja selbst im Unterliegen siegt sie, und liegt eine tiefe, unverkennbare Wahrheit in dem Worte des Herrn: „Selig sind die Sanftmütigen, denn sie werden das Erdreich besitzen“ (Matth. 5. 5). - O dass denn doch, zur Ehre des Geschlechtes, dem Sanftmut und Milde vorzugsweise eigen sein sollte, und zum Segen recht vieler Familien, nah und fern, hier und anderwärts, Maria, die Gebenedeite, recht zahlreiche Nachfolgerinnen fände, und vor Allem unsere noch jugendlichen Gattinnen und Mütter mehr und mehr sich bewogen fühlen möchten, auf den zu sehen, nach dem sich zu bilden, beharrlich in dessen Fußstapfen zu wandeln, der so herzlich sie und uns mahnet: „Lernet von mir, denn ich bin sanftmütig und von Herzen demütig!“ (Matth. 11. 29.)

IV.

In dem Kranze weiblicher Tugenden, welche Maria würdig machte, Mutter des Heilandes zu werden, dürfen wir auch die zarte Aufmerksamkeit nicht übersehen, welche sie stetsfort den leisesten Wünschen ihres geliebten Sohnes zuwendete. Lauscht - um nur eines Beispieles zu erwähnen - auf ihr Benehmen gegen ihren Sohn dort im hochzeitlichen Saale zu Kana Joh. 2. 1-11). So lange keine Not im Anzuge ist, macht sie sich nicht bemerklich; sowie aber Mangel eintreten und die unschuldige Fröhlichkeit der geladenen Hochzeitgäste stören will, tritt sie in den Vordergrund, und bemüht sich, den drohenden Nebelstand abzuwehren. Für sich hat sie keinen Wunsch, nur für die, in deren Gesellschaft sie sich befindet. Sie für ihre Person ist nichts weniger als genusssüchtig, nur kann sie den Gedanken nicht ertragen, dass der Kreis lieber Freunde, in dem sie sich befindet, in ihrem Genusse gestört werden sollte. Sie nähert sich ihrem Sohne und flüstert ihm die Worte zu: „Sie haben keinen Wein“, und ohne sich durch seine eben nicht gerade aufmunternde Antwort irgendwie einschüchtern zu lassen, vertraut sie doch fest auf seine ihr wohlbekannte Willfährigkeit für jeden brüderlichen Liebesdienst, und spricht zu den Aufwärtern: „Was er euch sagt, das tut“; in der Stille der Seele sich freuend, ungesehen und unbemerkt ein Werk der Liebe an ihren Anverwandten und Freunden getan zu haben.

Geht hin, Genossinnen ihres Geschlechtes, und tut desgleichen! Lässt sich's auch nicht leugnen, dass des Familienlebens Wert vorzugsweise in treuer, gewissenhafter Erfüllung der großen, heiligen Pflichten besteht, und in Lösung der großen, heiligen Aufgabe, die ihr am Traualtare einst vor Gott, dem Herzenskündiger übernommen; so ist's doch ebenso gewiss, dass des häuslichen Lebens Anmut in einer zusammenhängenden Kette kleiner Annehmlichkeiten besteht, für die das geräuschlos und stillwirkende christliche Weib auf eine sinnige Weise zu sorgen versteht. Lebt Marias Sinn in euch, so kommt ihr, wachsam, wohlwollend, unverdrossen, jedem erlaubten Wunsche entgegen, und freut euch so mit den Fröhlichen, wie ihr andernteils auch weinet mit den Weinenden (Röm. 12. 15). Ist der Zartsinn der gottgesegneten Nazarenerin in euch übergegangen, so möget ihr's nicht leiden, dass Jemand um euch herum unzufrieden, missvergnügt ist, und wo es Jemand wäre, er soll's nicht bleiben, so viel an euch liegt, es soll ihm geholfen werden, es soll ein Strahl der göttlichen Liebe und Barmherzigkeit auch ins unheimliche Dunkel seiner Seele fallen. Hat Christus auch euch geweiht und geheiligt zu eurer Bestimmung, himmlische Rosen ins irdische Leben zu flechten, so ist euch ein umfassender, weit hinaus, tief - hinein sehender, durchdringender Blick verliehen, aber ein Blick freilich, der durchdringt wie milde Frühlings - Sonnenstrahlen, nicht wie stechende, sommerliche Sonnenblicke, die doch nur Anzeichen eines nahen Ungewitters sind.

V.

So achtungswert die Persönlichkeit der Maria durch die soeben bezeichnete zarte Aufmerksamkeit war, so ist sie es viele mehr noch geworden durch ihre hingebende, aufopfernde Liebe.

Tretet im Geiste hin unter das Kreuz des Weltversöhners (Joh. 19. 25), und beobachtet sie, die einst mit entzückter Seele ausrief: „Siehe, von nun an werden mich selig preisen alle Kindeskinder!“ (Luk. 1. 48); beobachtet sie in der Stunde, da in traurige Erfüllung ging jenes ehrwürdigen Greisen ernste Weissagung: „Es wird ein Schwert durch deine Seele dringen“ (Luk. 2. 35); in den Stunden, da der Angebetete und Hochgepriesene als ein von der Welt Ausgestoßener, von Freunden Verratener und Verleugneter, von Feinden Misshandelter unter unzählbaren Martern den Tod erlitten hat.

Die Liebe macht da die Schwache stark. Die Liebe führt sie durch die wildstürmenden Volkshaufen hindurch, an den bewaffneten Wächtern, an den blutdürstigen Henkern vorbei, hinauf bis unter den Stamm des Kreuzes. Sie muss, sie will dabei sein. Sie kann, sie darf sich nicht trennen von dem von Gott und Menschen verlassenen Geliebten. Sie tritt hin, sie blickt hinauf, sie denkt, sie fühlt, sie lebt sich in seine Martern und seinen Tod hinein, ohne auch nur einen Augenblick an ihr Geschlecht, ihre Schwäche, ihr Alter, ihre hass- und racheschnaubende Umgebung, ihre Gefahr zu denken.

Es kann nicht anders sein, sie ist es, die sein Leiden mitleidet, die in ihm sich verhöhnt und verspottet sieht, sie, die unter seiner Dornenkrone blutet und von den scharfen Nägeln durchbohrt, zerfleischt wird; die Liebe aber zu ihrem Einziggeliebten gibt ihr Kraft, auch ihren peinlichsten Gefühlen Gewalt anzutun, und auch nicht durch einen einzigen Ausruf des Schmerzes die heilige Stille zu unterbrechen, da man auf den Knien hätte liegen und anbeten mögen.

Wer ist einer solchen Liebe fähig als allein das edle, sich selbst getreue Weib? Wir Männer kaum. Wir sind stark, stärker in vielen Dingen als das schwache Weib; in der Macht der Liebe aber, da hat es uns übertroffen, ist es uns überlegen. Treten wir bescheiden vor ihm zurück, lassen wir ihm unbestritten den Ehrenpreis. Was Liebe ist und wirkt und vollbringt, das weiß, besser noch als der aufopferungsfähigste Jüngling, die Tochter, die täglich, stündlich die Schuld ihrer Dankbarkeit einer schwachen Mutter, einem alternden Vater abträgt, und täglich, stündlich in dem Gefühle: „ach, es ist nur eine kleine Terminzahlung! vergelten, wie ich's möchte, kann ich's nicht! Gott sei ihr Vergelter!“; weiß besser noch als der pflichttreue Gatte die Gattin, die ihrem Manne folgt und einwilligt, wenn Pflicht gebietet und Umstände es erheischen, wohin es sein muss, und wär's auch in öde Wüsteneien, macht ja doch die Liebe die Wüste selbst zum Paradies; weiß besser noch als der brave Vater die Mutter, die, obwohl abgezehrt und abgehärmt, doch unermüdet und stark bis in den Tod am Krankenbettlein ihres kleinen Dulders wacht und sorget und betet, bis er ausgerungen hat, bis sie, Freudentränen weinend, auf sein verklärtes Engelsangesichtlein hinab blickend, sprechen kann: „Nun, liebes, teures Kind, dir ist wohl, deiner ist das Himmelreich!“

Aber wie sehr müssen wir wünschen, ja in treuer Fürbitte den Herrn bitten, dass deine Liebe nicht allein die Liebe einer natürlichen, gutmütigen, gefühlvollen Tochter, Gattin und Mutter, dass sie viel mehr noch, dass sie die Liebe einer durch den Geist Gottes gehobenen und geheiligten, durch den Geist Jesu Christi wiedergeborenen Christin sei; eine Liebe vor allen Dingen, die eingedenk ist des Herrn Jesu Wort: „Wer Vater oder Mutter, Sohn oder Tochter mehr liebt, denn mich, der ist meiner nicht wert“ (Matth. 10. 37); eine Liebe, deren Gegenstand vorzüglich Der ist, den die Liebe zu dir und zur armen Sünderwelt ans Kreuz getrieben; die Liebe, die aus tiefstem Herzensgrunde mit dem seligen Greding spricht:

Der am Kreuz ist meine Liebe,
Er allein in dieser Welt!
Ach, dass er's doch ewig bliebe,
Der mir jetzt so wohl gefällt!
Nun, es bleibe fest dabei
Und mir jede Stunde neu,
Sei es heiter, sei es trübe:
Der am Kreuz ist meine Liebe!

Lieber wähl' ich alle Plage
Und des Lebens schweren Stand
Als die sichern guten Tage
Und der Ehren eitlen Land.
Heiß' ich immerhin ein Tor,
Rufe mir die Welt ins Ohr:
Dass ich ihre Lust mit übe
Der am Kreuz ist meine Liebe! 1)

Ohne nun in einen götzendienerischen Marienkultus hinein geraten zu sein, lieber Zuhörer, hast du dich mit mir recht herzlich der Mutter des Welterlösers gefreut; hast in evangelischem Sinne ehrenvoll ihrer gedacht; hast, auch abgesehen von ihrer Würde den Heiland geboren zu haben, eine musterhafte, edle Weiblichkeit an ihr lieb gewonnen.

Aber dabei wirst du's nicht bewandt sein lassen. O tue doch das nicht, und glaube doch ja nicht, dass du keinen Schritt weiter gehen darfst, ohne die zarte Grenzlinie deiner Konfession zu überschreiten.

Auch hier sind es die Früchte, an denen man den Baum deines Glaubens und deiner Liebe in seiner Gesundheit erkennen soll. So trachte denn mit allem Fleiße eine „Maria“ zu werden, dem Herrn gefällig, köstlich vor Gott. Lass aus dem Kranze ihrer Tugenden keine Blume abfallen. Bekränze dich mit ihm als mit einem unverwelklichen Ehrenkranze; ihn lass deines Lebens Frühling verschönern; ihn lass in des Werktags Geschäften lieblich dich umduften; ihn lass am Tage des Herrn dein schönster Festschmuck sein; ihn flechte, wenn die Tage kommen und die Jahre herzutreten, von denen du sagen wirst: sie gefallen mir nicht (Pred. 12. 1), in dein Silberhaar; ihn lass, wenn du im Glauben selig entschlafen bist, lieblich, leicht über deinem Leichentuche ruhen: - dann bist auch du Gott sei's ewig Dank! eine Gebenedeite. Amen.

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